Montag, 22. März 2010

Voll Frontal

Nach seinem immens erfolgreichen Debütfilm Sex, Lügen und Video baute sich Regisseur Steven Soderbergh zu einem Wandler zwischen den Hollywoodwelten auf. Stilbrüche und plötzliche Kehrtwenden wurden zu seinem Markenzeichen. In dem einen Moment drehte er Oscar taugliches Material wie Erin Brokovich oder Traffic, im nächsten Popcornkino wie Ocean's Eleven und dann wendete er sich wieder dem Experimentalkino zu, etwa mit seiner Komödie Schizopolis. 2002 erschien mit Voll Frontal Soderberghs möglicherweise experimentellstes Werk. Der 2 Mio. Dollar teure Episodenfilm über die Neurosen und Beziehungen einer Gruppe von Medienmenschen in Los Angeles fällt insbesondere durch seine von engen, selbstgesteckten Grenzen geprägten Ästhetik auf. In Anlehnung an die dänische Dogma-Bewegung werden die grobkörnigen Videokameraaufnahmen nur bei bereits existierendem Licht an echten Drehorten gedreht. Soderbergh drehte sehr schnell, in möglichst wenigen Takes. Er verbat es sich, zwischen verschiedenen Aufnahmen hin- und herzuschneiden, er wählte stets den besten Take. Innerhalb des Takes darf geschnitten werden, was zu stellenweise springendem Bild führt. Die Kamera verfolgt die Filmfiguren, bewegt sich frei um sie herum, dringt in ihre Privatsspähre ein. Voll Frontal wurde als inoffizieller Nachfolger von Sex, Lügen und Video angekündigt, wobei es keinen inhaltlichen Zusammenhang gibt. Die Verbindung besteht allein darin, dass es um die ungeschöhnten Seiten von Beziehungen geht und dass das Filmpublikum eine voyeuristische Haltung einnimmt. Doch bereits die Bedeutung der Videokamera wird in Voll Frontal umgedeutet: Sagte Soderbergh über Sex, Lügen und Video, er sei auf die Idee zu dieser Geschichte gekommen, weil er die Videokamera als das Medium ansah, mit dem sich eine Person andere Menschen auf Distanz halten kann, nutzt er die Kameras in Voll Frontal um besonders nah an sie heranzukommen.

Der Film beginnt an einem Freitag Morgen und verfolgt die Geschenisse seiner Hauptfiguren, die alle über den Produzenten Gus (David Duchovny) verbunden sind, welcher am kommenden Abend seinen 40. Geburtstag feiert. Die Reporterin Catherine (Julia Roberts) schreibt eine Story über den afro-amerikanischen Fernsehschauspieler Nicholas (Blair Undwerwood), der versucht mit harter Arbeit in Hollywood Fuß zu fassen. Catherine begleitet Nicholas von Termin zu Termin, und während sie sich immer besser kennenlernen, entstehen zwischen ihnen die ersten Funken.
Drehbuchautor und Journalist Carl (David Hyde Pierce) wird entlassen, weil er nicht aufregend genug ist, und lebt in ständiger Angst, dass seine Ehefrau Lee (Catherine Keener) ihn verlässt, weil sie ihn uninteressant findet. Lee mus in ihrer Firma einen Angestellten nach dem anderen feuern und versucht diesen Job aufzulockern, indem sie die Angestellten in ihrem Büro schwachsinnige Aufgaben erfülen lässt. Ihre Schwester, die Masseurin Linda (Mary McCormack), plant derweil einen Kurzurlaub in Tucson um sich dort mit einem Typen zu treffen, den sie im Internet kennengelernt hat und auf diesem Wege ihr unerfülltes Liebesleben auszubessern. Dieser ihr bislang unbekannte Flirt aus dem Netz ist Theaterregisseur Ed (Enrico Colantino), der zusammen mit Carl den aktuellen Film von Gus schrieb und sich momentan mit dem Hauptdarsteller (Nicky Katt) seines Stücks The Sound and the Fuhrer in die Haare kriegt, da sich dieser unentwegt anmaßt über die kreativen Geschicke des Stücks zu entscheiden.

Visuell war Voll Frontal seiner Zeit voraus. Die zeitgenössischen Kritiken verrissen den optischen Stil von Soderberghs Billgproduktion. Er verursache Kopfschmerzen, die verwackelten und verrauschten Aufnahmen ohne jegliche Tiefenschärfe hinterlassen den Eindruck, man sehe sich ein schlechtes DVD-Bonusmaterial an, eine Hintergrunddokumentation über das Filmemachen, statt einer vollwertigen Kinoproduktion. Das heutige,von Youtube an wackelige Videos und grobkörnige Laienproduktionen gewöhnte Publikum dürfte in der ruhigen Kameraführung und den langen, ungeschnittenen Sequenzen in Voll Frontal dagegen eine erholsame Ruhepause von hektischen Streifen wie Cloverfield, Public Enemies oder die Bourne-Trilogie sehen.

Obwohl Voll Frontal in der heutigen Zeit wohl nicht ganz so große Teile des Publikums auf Anhieb abschrecken wird, wie noch vor acht Jahren, soll allerdings nicht bedeuten, dass Soderberghs provokatives Experiment auf mehr Verständnis stoßen würde. Erzähltechnisch und inhaltlich ist Voll Frontal zu ungewöhnlich und unfokussiert. Die Wahl der Szenenübergänge ist oftmals unersichtlich, der Großteil der Dialoge besteht aus skurril-nichtigem Alltagsgeblubber mit wenig bis gar keiner Bedeutung für die überaus geringe Handlung des Films. Voll Frontal ist ein Charakterfilm, keiner, der einen relevanten Plot erzählen will. Die Figuren gerieten für einen solchen Film jedoch sehr blass, es gibt keine ikonische Hauptfigur im Film, die den unbedarften Zuschauer zu fesseln weiß. Die Dialoge plätschern vor sich hin und die gewöhnlichen Macken der Figuren erstaunen nicht. Kein Wunder, dass die meisten Zuschauer die Geduld mit Soderberghs Spielerei verloren.

Ich persönlich finde aber, dass sich bei Voll Frontal die Geduld, von der man auf jeden Fall eine Menge mitbringen muss, auszahlt und sich der Film mit jedem Anschauen kontinuierlich steigert. Sobald man sich mit der anstrengenden und unaufregenden "French New Wave trifft Woddy Allen in LA auf Acid - im dänischen Dogma-Look"-Stilistik von Voll Frontal arrangiert hat, offenbart sich, wie die visuelle und erzählerische Form eine komplexe Symbiose mit der Spielweise der Darsteller und den Dialogen eingeht. Ja, Voll Frontal wirkt tatsächlich selbst unter diesem gesichtspunkt noch immer etwas affektiert, die Produktion strahlt das arrogante Bewusstsein aus wesentlich anspruchsvoller und tiefsinniger zu sein, als sie es wirklich ist, aber diese mit real greifbaren Skurrilitäten und Anekdoten gesprenkelte Abhandlung über Identität, Selbstbildnisse und menschliche (Un-)Verbundenheit ist bei weitem nicht die hohle Luftblase, die ihre Kritiker in ihr sehen. Neben der bereits genannten Deutungsebenen befindet sich in Voll Frontal auch eine Fingerübung darin, wie man experimentell die Diskrepanz zwischen Filmromanzen und realen Beziehungen erörtern kann, und was benötigt wird, um dem Zuschauer ein Filmkonstrukt glaubwürdig nahezubringen.

Voll Frontal hat auch sehr amüsante Elemente zu bieten: Nicky Katts postmoderne Interpretation von Hitler ist zum Schreien komisch, Jeff Garlin gibt sein bestes als täuschend echte Harvey-Weinstein-Imitation und zwei Gaststars parodieren in einer auf den Punkt gebrachten Szene den Drehalltag in Hollywood. In den Dialogen von Voll Frontal verstecken sicht außerdem laienphilosophische, skurrile Beobachtungen, die schon längst in die Popkultur eingegangen wären, stammten sie aus einem Tarantino-Film. Beispielsweise lassen sich Menschen laut einer Nebenfigur in Voll Frontal in zwei Schubladen einteilen. Es gibt die unaufregenden, die zu Hause ihr Bier aus dem Kühlschrank holen und es aus dem Glas trinken, und diejenigen, die es aus der Flasche trinken.

Solche Beobachtungen sind es, die diesen voyeuristischen Blick in sechs kaputte Beziehungsleben alltäglichen Ausmaßes letztlich sehenswert machen. Die Figuren mögen zwar nicht sonderlich denkwürdig sein, trotzdem bereitet es Vergnügen, ihnen bei ihren neurotischen Problemchen und den Versuchen sie zu überwältigen zu beobachten. Dazu trägt vornehmlich das sehr authentische, realitätsnahe Spiel des Ensembles, welches von Soderbergh während der einem Sommercamp gleichenden 18 Drehtagen zu einer eingeschworenen Gemeinde formte.

Die äußerst informative Sonderausstattung auf der Voll Frontal-DVD hilft weiter, einem diesen ungewöhnlichen Film näher zu bringen. Im gemeinsamen Audiokommentar von Soderbergh und Autorin Coleman Hough erfährt man sehr viel über den Reifeprozess des Drehbuchs und die ungewöhnlichen Dreharbeiten. Einen Einblick auf genau diese erhält man in kurzen Featurettes über die ans Set gebrachten Spionagekameras und die von Soderbergh aufgestellten Zehn Gebote des Voll Frontal-Drehs. Deleted Scenes mit optionalem Audiokommentar und In-Character-Interviews mit den Schauspielern runden das aufschlussreiche Paket ab.

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