Disneys neuster Realfilm Schneewittchen hat weniger mit Jon Favreaus abscheulichem, künstlerisch vollkommen wertlosem Der König der Löwen gemeinsam als mit Kenneth Branaghs Cinderella: Statt den Zeichentrickklassiker der Walt Disney Animation Studios noch einmal aufzuziehen, nur langsamer und hässlicher, sollte Marc Webbs Fantasymusical als weitere Interpretation des Märchens aufgefasst werden. Als weitere Interpretation des Märchens, die halt ebenfalls unter dem Disney-Banner erscheint und sich daher ein paar Rückgriffe auf den animierten Meilenstein nicht verkneifen kann, selbst wenn die zentrale Geschichte einen eigenen, dramatischeren Dreh bekommt.
Wie Branaghs Cinderella imitiert Webbs Schneewittchen diverse denkwürdige Einstellungen aus dem (nahezu) gleichnamigen Zeichentrickfilm, überträgt einzelne gezeichnete Kleidungsstücke in die Realität und greift ausgewählte Musikeinlagen auf. Abseits dessen lösen sich beide Filme vom engen Fokus der Disney-Zeichentrickfilme und erzählen zusätzlich vom Königreich rund um die titelgebende Prinzessin sowie davon, welche Auswirkungen ihre Familienvorgeschichte auf ihr emotionales Befinden hat.
An Branaghs ziemlich rundem Cinderella reicht Webbs Schneewittchen jedoch nicht gänzlich heran. Beispielsweise ist beim Lily-James-Vehikel der Wechsel in eine dramatischere Tonalität konsequent, während Schneewittchen zwar die Familienproblematik der Protagonistin ausbaut und zudem die Geschichte eines in Empathielosigkeit gefallenen Königreichs erzählt. Allerdings wird dieses Mehr an Dramatik nicht konsequent zum erwachseneren Ansatz. Beispielsweise sind die Gruselpassagen des Zeichentrickfilms gestutzt, und anders als der intuitiv verständliche Zeichentrickfilm übererklärt sich der Spielfilm.
Das größte Problem des neuen Schneewittchen-Films ist allerdings Wonder Woman-Star Gal Gadot, die als böse Königin eine hölzerne, verkrampfte Vollkatastrophe darstellt und nicht einmal böse gucken kann, ohne dass es unfreiwillig komisch wird. Ironischerweise ist der neue Schurkensong der bösen Königin rein melodisch und textlich einer der besseren neuen Songs, die das Greatest Showman-Duo Benj Pasek und Justin Paul für dieses Projekt verfasst hat. Wer allein auf Englisch schwört, wartet also auf eine Coverversion, um zu erkennen, welches Potential in ihm steckt. Synchronfans können sich indes freuen, dass Dakota Johnsons deutsche Stimme Rubina Nath deutlich, deutlich besser singen kann als Gadot, und im Falle von Schneewittchen auch mal diese Mimin vertonen darf.
West Side Story-Star Rachel Zegler ist wiederum ein hervorragendes Schneewittchen: Sie fängt eingangs die scheu-gutherzige, mitunter in Passivität gleitende Art des Zeichentrickvorbilds toll ein, was angesichts der vertieften Vorgeschichte zudem kein reines Trickfilm-Imitat ist, sondern eine nachvollziehbare, emotionale Grundhaltung. Aus dieser wächst das Realfilm-Schneewittchen sukzessive heraus (wenn der Film schon länger ist, soll auf Charakterebene auch bitte mehr passieren), sodass aus passiver Gütigkeit nach und nach eine inspirierende Widerstandsfähigkeit entsteht.
Es wäre interessant, zu wissen, was Secretary-Drehbuchautorin Erin Cressida Wilson und eine an früheren Fassungen beteiligte, nun nicht mehr als Autorin genannte Greta Gerwig ursprünglich geplant hatten. Denn der Eindruck lässt sich nicht abschütteln, dass Schneewittchens Charakterzeichnung komplexer und bewegender angedacht war. Im fertigen Film stottert der Erzählfluss gelegentlich durch eingeschobene, kurze Imitationen des Zeichentrickklassikers. Doch Zeglers Fähigkeit, innerhalb eines Wimpernschlags von großäugig-schüchtern zu freundlich-unbeirrbar zu wechseln, und ihr Gesangstalent glätten diese Skriptpolterei recht gut aus.
Inszenatorisch ist Schneewittchen zwar wahrlich kein großer Wurf, aber im Kanon der Disney-Realverfilmungen einer der beständigeren Titel: Waldkulissen mit kontrastreichem DEFA-Charme, ausstaffierte Dorfsets und kalt-prunkvolle Schloss-Innenarchitektur ergeben ein stimmiges Ganzes, inklusive einer den emotionalen Faden der Handlung stützenden Farbdramaturgie. Und selbst wenn sich wieder einmal einzelne, halbgare Chromakey-Augenblicke in den Film geschlichen haben, sind sie viel, viel rarer gesät als in den meisten Big-Budget-Franchise-Projekten der letzten Zeit.
Da kommt dem Film das stringente Design zugute: Alles, was nicht menschlich ist, hat in diesem Film eine schimmernde Kindchenschema-Ästhetik. Waldtiere sind fast schon im parodistischen Maße knuffig, die Zwerge wirken etwas aufgedunsen, aber fügen sich wesentlich besser in die Gesamtästhetik des Films, als die Trailer befürchten ließen. Und das Effektteam lässt die Zwerge sogar recht solide "schauspielen": Ihre Pointen funktionieren, Momente, in denen sie über sich hinauswachsen, fallen in die Sparte "glaubwürdig genug". Hier gilt: Für sich völlig fein, die Existenz der meisterhaften Zeichentrickanimation ist der größte "Feind" des Remakes.
Schneewittchens Schwarm, dieses Mal ein mit "Flynn Rider light"-Persönlichkeit ausgestatteter Dieb namens Jonathan anstelle eines namen- und persönlichkeitslosen Prinzen, überflügelt derweil mühelos die Trickfilmkonkurrenz. Schließlich hat dieser Gauner wenigstens etwas Profil und ist zudem mit seinen Überzeugungen, und der Art, wie sie Schneewittchen beeinflussen, handlungsrelevanter als im Klassiker von 1937, wo es keinen echten Unterschied gemacht hätte, ob der Prinz herbeigeritten kommt oder eine gute Fee die Prinzessin aus ihrer Lage befreit.
Der mit Jonathan und Schneewittchens "Wie lange will ich einfach aushalten, ab wann will ich dafür sorgen, dass ich nichts mehr aushalten muss, sondern mich entfalten kann?"-Zauderei verbandelte Handlungsfaden darüber, wie die böse Königin ihr Königreich und dessen Solidaritätsgefühl ruiniert, fügt sich organisch mit den altbekannten Story-Versatzstücken. Und auch wenn diese Widerstandserzählung angesichts der Tagespolitik zahm wirken mag, und nicht einmal unter der Disney-Flagge zu den aufrüttelndsten Geschichten dieser Art gehört: Sie gibt dem Realfilm schon im Alleingang eine Daseinsberechtigung (wer nochmal dasselbe sehen will, kann ja nochmal den Zeichentrickklassiker gucken) und schiebt ihn beispielsweise an Guy Ritchies fahrigem Aladdin vorbei. Geschweige denn an den völlig konfusen Maleficent-Filmen.
Fazit: Schneewittchen hätte im Schnitt noch etwas gestrafft werden sollen und leidet unter einer fehlbesetzten Schurkin. Und die neuen Gesangseinlagen sind mal so, mal so. Aber eine ebenso fähige wie sich freudig in die Rolle stürzende Rachel Zegler sowie eine, ja, eigenwillige, aber farbenfrohe und konsistente Ästhetik helfen Schneewittchen, zum soliden Fantasymusical heranzuwachsen. Im Kanon der Disney-Realfilmremakes einer der annehmbareren Einträge. Gewiss: Wer selbst Kenneth Branaghs Cinderella ablehnte, dürfte es auch hier schwer haben. Als moderne Zusatzoption zum Zeichentrickklassiker ist der Film aber tausendmal willkommener als der Susi und Strolch-Realfilm oder Robert Zemeckis' Pinocchio und mir auch lieber als Guy Richties seeeeeeltsamerweise weniger digitalen Hass abkriegender Aladdin.